Beate Reinecker

Philosophische Texte

Sieben ausgewählte Kapitel aus dem Buch:

Lass dich nicht verbiegen! Lass dich nicht brechen!

ISBN: 978-3734727207


In einer globalisierten Welt

Der Mensch, der Einzelne, ist häufig damit überfordert, sich ein Bild, eine realistische Einschätzung seines Lebensumfeldes zu erarbeiten. Die tägliche Informationsflut, eigene soziale, psychische und wirtschaftliche Probleme belasten jeden Menschen. Wir alle sind von den weltweiten, aber auch den ganz nahen, ganz persönlichen Problemen betroffen. Keiner kann sich davon freisprechen.

Die Philosophie bietet (wie die Psychologie) Möglichkeiten der Erkenntnis und der Verarbeitung an. Es wird in der Wissenschaft geforscht und viel zu den drängenden Themen des Menschseins veröffentlicht. »Alles hängt mit allem zusammen!« Politik wird nicht in einem Vakuum betrieben. Sie hängt von Staatsformen, Staatsverträgen, gesellschaftlichen Veränderungen und dem Einfluss aus Politik und Wirtschaft ab. Ethikkommissionen, Anregungen mündiger Bürger zeigen, dass nicht nur der Politiker gefordert ist, sich zu informieren und zu orientieren, sondern jeder Einzelne in dieser Gesellschaft. Jeder ist gefordert, sich ein Bild von seiner Umgebung, von der Zeit, in der er lebt, von seinem eingebunden Sein in die Gesellschaft zu erarbeiten. Die unterschiedlichen Wissenschaftsbereiche forschen und lehren, die fächerübergreifenden Kommissionen tagen und die einzelnen Sachverständigen beraten sich. Der mündige Bürger möchte sich informieren und aufgeklärt werden. Der Wechsel zwischen dem individuell orientierten Reflektieren und dem gesellschaftspolitischen, global orientierten Denken und Forschen führt zu einer Betrachtungsweise über den eigenen Tellerrand hinaus. Das egozentrierte Nur-um-sich-selbst-Kreisen kann aufgelöst werden, wenn man sich als soziales Wesen und als ein global eingebundenes Ich verstehen kann. Dazu gehört es, individuelle Themen bewusst zu reflektieren und dabei gesellschaftliche Voraussetzungen mit einzubeziehen. Jeder Einzelne lebt nicht losgelöst von der Gesellschaft, vom Zeitgeist und der Beeinflussung von außen. Wir alle sind Teil dieser Gesellschaft, dieser Zeit – und dennoch oder gerade deshalb ist es so wichtig, sich einen eigenen Standpunkt zu erarbeiten. Eigenverantwortung und Selbstbestimmung, ja, eine eigene Identität können nicht erreicht werden, wenn der Einzelne nur reagiert. Die eigene Persönlichkeit bedeutet eine große Verantwortung für jeden Einzelnen.

–       Wer bin ich?

–       Wozu stehe ich?

–       Welche Werte vertrete ich?

–       Was macht mich tief im inneren Kern aus?

–       Welchen Platz nehme ich innerhalb der Gesellschaft ein?

–       Welche Haltung und Einschätzung nenne ich im Kontext

mein Eigen?

Diese komplizierte, schnelllebige Zeit wirft täglich neue Fragen auf. »Alles hängt mit allem zusammen!« In einer globalisierten Welt bekommt dieser Satz eine ganz eigene Bedeutung und Dynamik. Die Informationsflut fordert jeden Einzelnen heraus. Die Länder- und kulturübergreifende Informationsvernetzung schafft die Voraussetzung für Aufklärung und den Zugang zu einem extremen Informationsangebot. Jeder, der Zugang zum Internet und ein Mindestmaß an Bildung genossen hat, sprich: lesen und schreiben kann, partizipiert am globalen Netz. Der Einzelne befindet sich nicht länger in einer kulturellen Nische. Die eigene Religion, Kultur, der individuelle Lebensraum können als eines unter vielen reflektiert werden. Der Mensch kann über den eigenen Tellerrand hinausschauen und Werte, ethische Komponenten reflektieren, die für jeden Menschen weltweit von Bedeutung sind. Es geht dabei um Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit und eine globale Sicht auf die Welt. Die Umverteilung von Ressourcen, die Lösung von weltweiten Problemen (wie Armut, Klima) und die Lösung von Konflikten aller Art rücken bei einer globalen Betrachtung in den Vordergrund. Der Schrei nach Gerechtigkeit auf dem fruchtbaren Boden eines ethischen Bewusstseins ist auf der ganzen Welt zu hören. Wir brauchen starke, mündige, aufgeklärte Persönlichkeiten, die im Zuge eines globalen Bewusstseins ethische Konzepte liefern. Die Appelle »Lass dich nicht verbiegen! Lass dich nicht brechen!« sind tragende Säulen in meiner Philosophie. Sie zogen sich wie ein roter Faden durch die einzelnen Stationen meines Lebens und meiner Arbeit – und zeigten ihre Relevanz unter immer neuen Gesichtspunkten. Der Ruf nach Wahrung der Würde, in jedem Alter, in jeder Lebenssituation, in jeder Notsituation, wird in ihnen hörbar. Der Anspruch auf ein würdevolles Leben kommt in den Appellen »Lass dich nicht verbiegen! Lass dich nicht brechen!« zum Ausdruck, soll doch die Demütigung des Einzelnen unterlassen, vermieden werden. Jede Lebenssituation, jede Notsituation, in der ein Mensch sich befinden kann, birgt die Gefahr einer Erniedrigung, Abwertung und der Würdelosigkeit. Jeder Mensch ist eingebunden in ganz individuelle Systeme. Diese bedeuten eine immense Herausforderung bezüglich der Wahrung und Entfaltung der Persönlichkeit. Seine Identität zum Ausdruck zu bringen und seine Würde in jedem Alter bewahren zu können, stellt für den Menschen eine Herausforderung, eine Lebensaufgabe dar. Die Stolpersteine, die Hürden, die psychischen Vergiftungen müssen erkannt und als Gefahr für das eigene Selbst gebannt werden. Es geht um ein Leben ohne Demütigungen und Erniedrigungen. 

 

Lass dich nicht brechen!

Vor allem Menschen, die nicht gelernt haben oder lernen durften, auf ihre innere Stimme zu hören, die ihnen sagen kann, was für ihre eigene Persönlichkeit förderlich ist, sind in größter Gefahr, sich immer weiter von ihrer natürlichen Persönlichkeitsstruktur zu entfernen. Der Prozess der Entfremdung wird oftmals nicht ausreichend wahrgenommen. Das beklemmende Unwohlsein wird überspielt, nicht ernst genommen. Manifestiert sich die Entfremdung immer mehr, so kann es zu schweren psychischen Störungen kommen. Der oder die Betroffene kann suchtabhängig, depressiv oder psychotisch werden. Sie können oft nicht mehr unterscheiden zwischen ihren eigentlichen, natürlichen, ihnen guttuenden Wünschen und Vorstellungen und den Forderungen, die von anderen an sie herangetragen werden. Man muss dabei streng zwischen den Lebenssituationen unterscheiden, etwa der Arbeitswelt mit ihren legitimen Aufgaben, wo das Individuum leider auch mal fremdbestimmte Anweisungen zu erfüllen hat, und dem natürlichen Privatbereich, wo sich die menschliche Identität nach ihren genetischen, ursprünglichen Neigungen entfalten könnte. Wird von einer Person immer wieder und immer hartnäckiger Anpassung, Verzicht und Selbstaufgabe erwartet, so muss sich niemand wundern, dass die Betroffenen irgendwann zusammenbrechen oder schlichtweg nur noch vegetieren. Denn: Ihre eigentliche Meinung ist ja nicht gefragt. Ihre eigentlichen Bedürfnisse werden nicht ernst genommen. Es wird ihnen ein fremdbestimmender Anforderungs- und Anpassungskatalog übergestülpt. Sie werden quasi entmündigt. Wer dies über sich ergehen lässt, verliert irgendwann den unmittelbaren Kontakt zu seiner ursprünglichen Persönlichkeit. Heftige Stimmungsschwankungen, Aggressivität und schließlich Teilnahmslosigkeit sind oft die Folge. Daher die Appelle:

»Lass dich nicht verbiegen!
Lass dich nicht brechen!
Lass dich nicht zerbrechen!
Lass dich nicht geistig spalten!«

Der Bezug zu mir selbst ist die Grundvoraussetzung für ein seelisch und körperlich gesundes Leben. Daher ist es ratsam, eine möglichst hohe Übereinstimmung von Privat- und Arbeitsbereich mit seinen Aufgaben und Anforderungen und meiner ursprünglichen, natürlichen Persönlichkeit zu realisieren. Zu vegetieren und fremdbestimmt zu funktionieren ist eine total unbefriedigende und krankmachende Lebenssituation. Daher die Appelle:

»Habe Mut!
Höre auf deine eigene innere Stimme!
Gib die eigene Stimme frei!
Lebe dich!
Respektiere dich!«

 

Der Raubtierkapitalismus
u
. das individualisierte Weichei

Nun kann man sich die Frage stellen: »Was hat der Raubtierkapitalismus mit dem individualisierten Weichei zu tun?« Der immer brutaler werdende Kapitalismus mit all seinen ausbeuterischen Machenschaften auf dem gesamten Globus liebt den »Einzelkämpfer«. Er liebt es, wenn dem Individuum suggeriert wird: »Du kannst alles schaffen! Du allein trägst die Verantwortung für deinen Wohlstand, für deine Bildung, für deine Kindererziehung. Du allein bestimmst über dein Leben in allen erdenklichen Bereichen.«

Wenn man sich in unserer Gesellschaft umsieht, muss man erschreckende Zustände und Missstände diagnostizieren: Das Zurück geworfen Sein auf sich selbst, die zunehmende Individualisierung, fordert einen hohen Tribut. Wenn eine Gesellschaft vornehmlich aus Einzelkämpfern besteht, mangelt es an allem: an qualitativ hochwertiger Kommunikation, an Zeit für pädagogische Betreuung und Zuwendung, an menschlicher Wärme. Vor allem mangelt es an Zeit: Zeit für die Familie, Zeit für Freundschaften, Zeit für Erholung, Zeit für das Denken, auch für das kritische Denken und Umdenken, Zeit für das sich bewusst Werden, das bewusste Planen und Umstrukturieren. Es mangelt schlicht und ergreifend an Zeit und Muße für ein bewusst gelebtes Leben, in dem der Einzelne nicht länger ein Rädchen im Getriebe ist, das lediglich funktionieren kann und soll. In der Schnelllebigkeit und Hetze des Alltags kommt der Einzelne kaum noch zu sich selbst. Er soll seine Arbeit zu hundert Prozent leisten, er soll viel konsumieren, alles um sich herum perfekt organisieren, nirgendwo anecken und seinen Alltag und sich selbst optimal im Griff haben. Alles soll reibungslos funktionieren und man selbst gleich mit.

In dieser Hektik, Fremdbestimmtheit und in diesem individualisierten Funktionieren können viele menschliche Bedürfnisse gar nicht gelebt werden. Für das Bedürfnis nach täglicher Ansprache und Aussprache, für gemeinsame ausgiebige Mahlzeiten – gut für Körper und Geist! –, für vernünftige Lebensplanung, für das alles gibt es oft keinen Raum mehr. Der gehetzte Einzelne der heutigen Gesellschaft zahlt dafür einen hohen Preis: Er kann selbst kaum mehr kritisch reflektieren, kaum mehr angemessen kommunizieren, oft ist ihm das Gefühl für Gemeinschaft und Solidarität abhanden gekommen. Man möchte in der Ellbogengesellschaft ein »Stück des Kuchens« abbekommen und merkt oft nicht, dass man das Kostbarste verliert: sich selbst und seine eigenen Vorstellungen, eigenen Wertigkeiten, den liebevollen Bezug zu seinen Mitmenschen, den Drang, eigene kreative Hobbys oder Fähigkeiten aller Art auszuleben. Man hat den Zugriff zu sich selbst, zu seiner Lebenszeit, zu seiner mitmenschlichen Umgebung verloren.

Wenn der Mensch recht isoliert als Rädchen im Getriebe funktioniert und konsumiert, verliert er auch oft seine Kritikfähigkeit und wehrt sich nicht mehr. Er schließt sich kaum mit anderen zusammen, um zu kämpfen, um sich zu wehren und um für bessere Lebensumstände einzustehen. Erschöpft vom Alltagstrubel isoliert er sich zusehends und gibt sich den gesellschaftlich allgegenwärtigen Kompensationsbeschäftigungen hin: sinnloses, übertriebenes Shoppen, falls Geld vorhanden ist, stundenlanges Surfen im Internet als Kommunikationsersatz für reale Gespräche, exzessives Konsumieren von Alkohol, Tabletten oder anderen chemischen Drogen. Für unser über Jahrtausende gereiftes Gehirn sind die Überreizung durch Medien, der Stress durch Arbeit und Beziehungen, die häufige Unvereinbarkeit von Beruf und Familie sowie die übertriebene Hektik unserer »heißen« Kultur eine andauernde Überforderung. Hohe Ansprüche an uns selbst, vor allem, wenn wir sehr bewusst und verantwortungsvoll leben wollen, lassen uns ausbrennen, bis zum Burn-out. Das Leben wird unbefriedigend, inhuman und ist nicht mehr auszuhalten.

Dies alles erfordert ein rigoroses Umdenken, das schließlich ein menschlicheres Leben zur Folge haben könnte. Wenn der Einzelne schwach, ausgelutscht, entmutigt, verbogen und isoliert lebt, kann der Raubtierkapitalismus ungehindert zuschlagen. Der Schwache kann sich kaum mehr wehren. Er vegetiert. Er agiert nicht mehr. Er bestimmt schon längst nicht mehr seine Lebensumstände und seine Lebensrichtlinien. Irgendwie muss der Verbogene mit seinem Alltagsfrust und Stress klarkommen. Zeit und Energie zum Aufbegehren? Fehlanzeige. Alles scheint unabänderlich, festgefahren, »alternativlos«. Wenn der Einzelne nicht gelernt hat, selbstbestimmt zu handeln, unabhängig zu denken, dann wird er in dem kapitalistischen System zu leichter Beute, immer wieder manipuliert und verführt. Er hechelt den wechselnden Versprechungen der Gesellschaft im Zickzackkurs hinterher oder verfolgt stur eine vorgegebene Spur – immer auf der Suche nach einem Vorteil, immer nahe am Abgrund. Er spürt nicht mehr, dass er von vielfältigsten Medieneinflüssen manipuliert und zum Opfer geworden ist. Gut geht es ihm dabei selbstverständlich nicht. Das Ruder hat er schon längst aus den Händen gegeben. Auch sein Kopf gehört ihm längst nicht mehr. Er weiß nicht, nach welchen Kriterien er sich richten soll. Ihm schwirrt der Kopf. 


Schweigend und verloren in Scheinwelten

Will man nicht, dass das Unaussprechliche, Unvergessliche ans Licht kommt? Will man nicht, dass du dich wehrst? Will man dich immer wieder zum Schweigen verdonnern? Will man, dass du funktionierst, aber nicht aufmuckst? Du sollst auf deinem bequemen Trampelpfad bleiben, funktionieren, du sollst dich nicht beschweren? Viele Menschen leben gefangen in Bedingungen, die ihnen körperlich und seelisch nicht gut tun. Es sind Bedingungen, die sie sich nicht freiwillig und ihrer Natur entsprechend ausgesucht haben. Wenn dieser Zustand bewusst erlebt und benannt werden kann, so gestaltet sich die Lebenssituation als nicht ausweglos, da die Betroffenen ihre individuelle Situation beschreiben und verstehen können. Eine Abhilfe wäre somit möglich, wenn die nötigen pragmatischen Schritte eingeleitet würden. Doch vielen Menschen ist ihre ausweglose fremdbestimmte Lebenssituation nicht bewusst. Sie haben die Pflicht, die von ihnen erwartet wurde, erfüllt. Sie haben funktioniert, oftmals auch gegen ihr eigenes Empfinden gehandelt: Emotionen, inneres Aufbegehren wurde immer wieder unterdrückt, begleitet von Gedanken wie »Nun kann ich mir diese Freiheit aber nicht erlauben«, »Heute kann ich mir diese Auszeit nicht nehmen«, »Diesen Lebensweg kann ich jetzt aber nicht einschlagen«, »Dies kann ich aus finanziellen Gründen nicht ausleben« oder »Die anderen in meiner Familie erwarten dieses oder jenes von mir«. So verstreicht kostbare Lebenszeit, Lebensenergie und auch Lebenslust, weil sich der Einzelne gegen sein Gefühl und gegen seine Wünsche an das Leben anpasst und sich Stück für Stück aufgibt. Inneres Aufbegehren, innere Kämpfe werden immer schneller unterdrückt, denn es wird als anstrengend und schmerzhaft erlebt, aufzubegehren, sich gegen Widerstände von außen durchzusetzen. Eigene Träume, Wünsche werden unterdrückt, nicht mehr wahrgenommen und finden ihren Platz im Unbewussten. Daher die Appelle:

»Nimm dich ernst! Spüre dich! Erspüre deine innersten
Wünsche!
Lasse die eigenen Vorstellungen vom Leben zu und versuche, sie immer mehr in deinen Lebensalltag zu

 integrieren, so dass du selbst in deinem Leben wieder vorkommst und nicht länger eine Rolle spielst.        
Sei dein eigener Komponist! Spiele nicht bloß fremde Noten ab!«

Entgegen den Unkenrufen vieler Mitmenschen kann man sein eigenes Ego sehr wohl ernst nehmen und auf seine Stimme hören. Dies haben nur leider allzu viele Menschen verlernt. Sie haben es aufgegeben oder nie richtig damit begonnen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Sie funktionieren bloß, mehr recht als schlecht. Sie zappeln an Fäden, fremdbestimmt und ohne eigenes Lebenskonzept. Das Denken und Lenken haben sie längst anderen überlassen. Der Anspruch »Lebe deinen Traum!« wird nur noch abends in der TV-Werbung wahrgenommen, aber natürlich nicht auf sich selbst bezogen. Sehnsüchte werden als »Spinnereien« abgetan. Ein schleichender Verbiegungsprozess hat eingesetzt.

Dass Selbstbestimmung aber geübt, gelernt und auch in kleineren Etappen verwirklicht werden kann, wissen viele nicht. Man traut sich nicht recht heran, an die Selbstbestimmung. Irgendwie ist dies ja auch nirgendwo so richtig anerkannt, obwohl es in den Medien von Abenteuerwerbungen nur so wimmelt. Man denke an das wunderschöne Segelschiff in der Alkoholwerbung. Aber: Das sind Attribute der Werbung, das sind Attribute der Medien. Die Medien dienen schon lange zur Kompensation. Dort, in den Scheinwelten, ist alles erlaubt. Dort scheint es keine Tabus zu geben. Das Internet macht alles möglich. Doch, wo bleibt der Konsument, der sich in den Scheinwelten verstrickt, immer mehr Lebenszeit für die virtuelle Welt opfert? Der schnelle Kick der virtuellen Welt verblasst. Doch wie sieht sein reales Leben aus? Was erlebt der Einzelne wirklich – und entspricht dies auch seinen Wünschen und Lebenszielen?

Die Mündigkeit, eigene Ziele, Werte und Vorstellungen für sich zu finden und zu formulieren, um das Leben authentisch, wertvoll und freudvoll zu gestalten, sollte eine prägende Aufgabe der Erziehung sein. Mündige, starke, selbstbestimmte Personen verlieren sich nicht in manipulativen Scheinwelten. Sie werden auch keine Opfer von ersatzbefriedigenden Süchten.

Ein Mensch, der sich selbst kennenlernen durfte und sein Leben selbstbestimmt leben kann, hat es nicht nötig, permanent auf der Flucht zu sein, denn er ist bei sich angekommen. Er verändert sich im Laufe seines Lebens in Würde: Er muss nicht immer scheinbar jung bleiben und er muss auch nicht immer scheinbar gut drauf sein. Ein selbstbestimmter Mensch darf altern, Emotionen zeigen, sich äußerlich und innerlich verändern. Er ist Teil des natürlichen Lebensflusses. Die Scheinwelten mit ihren unmenschlichen, unnatürlichen Ansprüchen und Fratzen sind dagegen abstoßend. Hier herrscht die Unmenschlichkeit des Jugendwahns, des Profits um jeden Preis. Hier herrscht die Regel des unkritischen Konsumierens, koste es, was es wolle, und sei es auch die Gesundheit von Körper und Geist. Dies ist natürlich abzulehnen. 


Du bist der Wellenreiter

Das Universum, dein Lebensfluss, deine Strahlkraft, alles ist in dir und um dich herum. Seit du nicht mehr an Fäden zappelst, seit du dich unverfälscht erleben, erfühlen kannst, strahlst du. Die Anderen sehen das und freuen sich, erfreuen sich an deiner Strahlkraft. Die Funken sprühen, leuchten und springen auf sie über. Die Anderen wollen von deinem Nektar trinken. Sie wissen oft nicht, warum und wieso. Ihnen ist nicht bewusst, warum sie an deinen Lippen hängen, warum sie dich gern ansehen und warum sie deine Meinung verinnerlichen wollen. Sie spüren, dass du frei bist, dass das Leben in dir strömt, dass alles in dir in einem lebendigen Fluss warm fließen kann. Sie sehen dir dein gelebtes Leben an, auch deine Qualen, die du erlitten hast. Doch sie sehen, dass du die Kraft hast, dich mit dem Leben immer wieder aufs Neue zu beschäftigen, zu konfrontieren, denn du bis kein Mitläufer, kein Wegläufer. Du schaust nicht weg – und deshalb hast du so viel gesehen. Das spiegeln deine Augen deutlich wider. Das Leid hat dich nicht aufgelöst, weil du es angenommen hast. Du warst weise genug zu erkennen, dass die Wellen des Lebens ein Teil des Großen und Ganzen sind. Nun bist du zu einem erfahrenen Wellenreiter geworden. Du liebst es, auf den großen Meeren zu surfen, immer auf der Suche nach deiner Welle, und du hast auch vor großen Brechern keine Angst. Du hast Ozeane und das Leben gekostet, ausprobiert und dich hineingeworfen. Du warst auf dem Grund, du warst hoch oben auf den großen Wellen, bist abgetaucht und aufgetaucht. Danach war deine Haut frisch und gut durchblutet, deine Augen leuchteten noch mehr. Sie funkelten nun mit den Sternen um die Wette. Deine Strahlkraft war noch stärker … Das Leid hatte dir Flügel wachsen lassen. Ganz unten auf dem Grund hattest du dich für das Leben, das Überleben entschieden.

Du hättest aufgeben können, denn der Tod hatte bei dir angeklopft. Er hatte sich bei deinem Körper und bei deiner Seele gemeldet. Du hattest ihn gespürt. Und als du ihn ganz deutlich wahrgenommen hast, konntest du das Gefühl einer Wärme empfangen, denn der Tod kam zu dir und gab dir die Gewissheit des Loslassendürfens. Es war das Gefühl eines endgültigen, unendlichen Loslassens und es durchströmte dich warm und gab dir Geborgenheit. In diesem Moment brauchtest du nichts mehr gut oder perfekt zu machen. Als du auf den Meeresgrund geschleudert wurdest, rann dir viel Salzwasser in die Nase und durch die Nase in deinen Mund. Du hattest ein wenig Angst, doch gleichzeitig warst du eins mit der Natur, mit Gott, mit allem. Es durchströmte dich eine Wärme und du warst dankbar für deinen Mut, in die Wellen zu springen. Du wolltest das Leben spüren und alle Zellen deines Körpers sollten es einatmen. Du warst froh darüber, dass du deinen Impulsen gefolgt bist, während du niemals jemandem gehorchen wolltest, auch nicht immer dir selbst, weil du wusstest, dass die Stimme in dir manchmal ängstlich zu dir sprach und dich somit auch behindern konnte. Der Stimme der Angst in dir wolltest du nicht gehorchen, denn sie war in dem Moment nicht die Stimme der gutmeinenden, mahnenden Vorsicht. Du wolltest nicht mehr auf die Stimme der Angst hören, denn sie kam von irgendwoher. Sie kam oft von dort her, wohin du nicht wolltest. War es die Stimme der Einschüchterung?

Du wolltest frei sein, ein Teil des Lebensflusses im Universum. So konntest du dich immer wieder ins Leben werfen, mit Haut und Haar. Du wolltest dich nicht einbetonieren, und nicht den Lebensfluss. Die große Energie sollte frei in dir fließen. Du konntest sie deutlich spüren, doch ihr Ursprung war so groß, dass du sie nicht immer ganz erfassen und denken konntest. Du warst stolz, dass du so stark warst, manchmal diese Energie zu empfangen, sie anzunehmen und durch dich strömen zu lassen. Es war ein langer Weg, den Lebensfluss immer wieder zu spüren, zu hören, denn der Wind, die Musik, die Lyrik, die Gedanken der Denker, die Gesänge und die Tiere, die ganze Natur – alles konnte zu dir sprechen. In den besten Phasen deines Seins konntest du alles hören, weil du ohne Angst gern empfingst und dem ganzen Leben ein Zuhause sein wolltest. Du konntest das Leben hereinlassen. Nichts war zu wild, zu viel, zu groß oder zu übermächtig. Selbst der Tod konnte dich in diesen Momenten nicht erschüttern. Doch du wolltest weiterleben, nicht verdrängen und dich auch nicht vor Inhalten wegducken. Selbst das Leid war dir willkommen. Du wusstest, dass alles Verbiegen gegen die Natur angeht. Ganz tief in dir sprach eine große Kraft, die dir Stärke vermittelte, andere nicht verbiegen zu wollen. Die Anderen sollten deine unverbogenen Gäste sein. Schließlich liebtest du schon immer die Wilden, Temperamentvollen und auch die Menschen der leisen Töne, die sie selbst waren und sich trauten, sie selbst zu sein. Du konntest sie in der Menge genau erkennen. Sie waren selten zu sehen. Sie leuchteten aus der Masse hervor. Aus ihnen strahlte die Kraft des Universums. Auch wenn sie litten, lachten sie trotzdem oder gerade weil sie in ihrer Größe den Lebensfluss akzeptieren konnten. Sie hatten eine große Kraft, die Anderen so zu lassen, wie sie waren, und sie darin zu unterstützen, wie sie sein wollten. Solche Menschen sind die Vorbilder, die Befreier. Sie sind die Fackeln in der Dunkelheit. Sie können Orientierung bieten. Sie trauen sich zu tanzen, wenn die Anderen im Stechschritt marschieren. Diese Menschen singen frei und kräftig, wenn andere verstummen und angepasst nicken. Sie können sich am Leben berauschen und brauchen keine Chemie im Kopf. Sie lassen die universelle Kraft in sich hinein und sie geben dem Lebensfluss eine besondere Note. Schau in den Spiegel, um deinen Mund tänzelt dein Leben. Es ist sichtbar geworden in den Spuren – und diese erinnern dich an deine Abenteuer und an deinen reich gedeckten Lebenstisch. Du kannst dankbar sein für die Spuren und für dein Leben. 


Du und der blaue Dunst der großen weiten Welt

Du gibst dich gut informiert und aufgeklärt. Du bist ein Kosmopolit, sagst du. Dein Kaffee schmeckt dir, deine Zigaretten ebenso. Deine Schnäppchen versüßen dir dein Leben. Dir ist es egal, woher alle deine Must-haves kommen. Dir scheint auch egal zu sein, wie viel die Arbeiter verdienen, die all deinen Luxus herstellen. Ja, du bist »aufgeklärt«, doch du willst nichts wissen, nichts hören, von den Hungerlöhnen dieser Welt. Du willst keine Störung, willst dir deine Stimmung nicht verderben lassen. Deine Ohren stehen auf Durchzug, doch du bist ein »Kosmopolit«, kulturbeflissen, belesen, ein »Menschenfreund« mit sozialem Bewusstsein!

Du hast Ansprüche, sagst du. Du kennst dich aus, in der Welt. Du bist ein Globetrotter, ein Kosmopolit eben. Du kennst auch die Frauen, und kein Hafen in der Welt ist dir fremd. Doch du kennst dich selber nicht. Du kannst dir selbst kein Hafen sein.

Irgendwann hast du verpasst, in dir die Kraft zu suchen, die dir eine Unabhängigkeit garantieren könnte. Du seiest ein Mensch von Welt und Freiheit, behauptest du. Doch eine Überzeugung, eine erarbeitete Einstellung zu den tragenden menschlichen Themen hast du nicht. Der blaue Dunst umweht deinen Kopf, vergiftet dich. Du siehst stolz aus, wenn du an deiner Zigarette ziehst. Du kennst dich aus in der großen, weiten Welt. Nichts kann dich schocken, meinst du beiläufig. Dein billig erworbener Kaffee schmeckt dir, aber du machst dir keinen Kopf über Preise, Löhne und Lebensbedingungen der Menschen, die dir diese Genüsse garantieren.

Wieder nimmst du einen kräftigen Zug von deiner Zigarette und versicherst: »Nichts ist mir fremd. Ich bin Kosmopolit. Ich kenne mich aus. Morgen steche ich wieder in See.« Afrika. Lateinamerika. Indien.

Vielleicht kannst du navigieren, Meilen und Strömungen berechnen. Doch dir fehlt Bewusstsein. Deine Häfen sind für dich Amüsiermeilen, du bist nur ein Durchlauferhitzer für alle Genüsse dieser Welt. Du magst viel gesehen haben, hast aber leider wenig begriffen und erkannt. Die Menschen um dich sollen dir zuarbeiten, deinen Genuss garantieren und dir die Füße küssen. In dir selbst konntest du nie vor Anker gehen. Was dich umgab, hast du nie wirklich gesehen, denn du hast weggeschaut, während du hinzusehen glaubtest.

Du ziehst wieder an deiner Zigarette und betonst, dass du alle Länder bereist hast und dass dir die Frauen überall zu Füßen liegen und dass du nun neuen Abenteuern entgegenfieberst. Das mag sein. Doch dein Anker geht nicht tief genug; du kannst leicht weggetrieben werden, du Kosmopolit! 


New York, New York – gedopt in New York

Du fährst in einer Stretch-Limousine durch New York, mit deiner Hand klammerst du dich an den Champagner, dein Blut pulsiert und deine Ohren werden pausenlos beschallt. Du siehst nicht viel, alles rauscht an dir vorbei. Du hast keinen Bezug zu den Straßen, zu dem Geruch und auch nicht zu dem Elend. Deine künstliche Welt suggeriert dir etwas, etwas Unbeschreibliches: Du bist ein Teil der Stadt und hast eben doch keinen Bezug zu ihr. Du konsumierst sie so wie den Inhalt deines Glases: Du kannst diese Stadt nicht erfassen. Du bist ganz nah dran und doch isoliert in einer Scheinwelt. Alles rast an dir vorbei – und in dir selbst entfaltet sich ein Chemie-Cocktail, ein künstlicher Zustand. Konsumierst du die Stadt? Zu viel Reibung würde dir nicht gut tun, denkst du: zu gefährlich, zu viel Kriminalität, Armut, stinkende, bedrohliche Ecken. Du hast viel davon gehört, aber das willst du nicht sehen. Du willst Spaß haben. Du bist wichtig. Sitting on top of the world. Du liebst New York.

Doch du willst die Stadt nicht wirklich sehen, nicht ihre dreckigen Gerüche aufnehmen. Du machst dir ein Bild von New York, doch wie soll das gehen, aus dem Taxi heraus? Ja, du kennst viele Menschen in New York, doch welche eigentlich genau, persönlich? Kennst du ihr authentisches Lebensgefühl? Und lässt du dein wahres Gefühl zu? Alles soll passen, funktionieren, immer sauber, immer easy, Small Talk, Glücksgefühle. Wahres Glück, tiefes Empfinden, auf der Spur des Genießens, auf deiner Überholspur? Spürst du dich? Lässt du andere an dich heran? Willst du auch mal die Angst, das Elend sehen, spüren, durchleben? Wie viel musst du täglich ausklammern, in deinem Leben? Ist es nicht langsam zu viel? Verformst du dich nicht langsam zur Unkenntlichkeit?

Small Talk, Lachen, feiern, gefallen wollen, auf der Überholspur, immer easy. Wie ein gedopter Roboter? Wo ist deine Authentizität? Wo bleibt dein Ich? Was wolltest du mal von deinem Leben? Du sagt: du hast alles erreicht! Hast du dich selbst gelebt, dein Ich gefunden? Suchst du dich überhaupt noch? Lässt du es zu, zu zweifeln, zu leiden, wahrhaftig zu leben? Oder rauschst du vorbei, in deiner Stretch-Limousine, mit der Dosis Chemie in der Hand, gedopt in New York?